Biografie
Richard Gerstl wird am 14. September 1883 als dritter Sohn des Ehepaars Emil und Maria Gerstl, geboren Pfeiffer, in Wien geboren. Der Vater kommt ursprünglich aus dem ungarischen Neutra und ist jüdischer Abstammung. Als Geschäftsmann hat er ein beträchtliches Vermögen erwirtschaftet, wodurch die Familie in gutbürgerlichen Verhältnissen leben kann. Die Mutter stammt aus Kaplice, dem heutigen Tschechien, ist Christin und besteht auf die römisch-katholische Taufe ihrer Söhne. Nach zwei Jahren im Wiener Piaristengymnasium, wechselt Gerstl in die Meixner Privatschule. Während der Schulzeit erhält Gerstl Zeichenunterricht von Otto Frey. 1898 nimmt Gerstl zwei Monate Unterricht in Ladislaus Rohsdorfers Zeichenschule „Aula“, um sich auf die Aufnahmeprüfung an der Akademie der bildenden Künste in Wien vorzubereiten.
Mit 15 Jahren beginnt Gerstl ein Studium in der „Allgemeinen Malerschule“ bei Christian Griepenkerl an der Akademie der bildenden Künste in Wien, wo er sich mit Victor Hammer anfreundet. Das Verhältnis zwischen Gerstl und Griepenkerl ist von Anfang an von Spannungen geprägt. Griepenkerls konservativer Unterricht widerspricht Gerstl künstlerische Auffassung, Gerstl verlässt die Akademie und sucht nach einer künstlerischen Alternative. Diese findet er in der modern ausgerichteten Künstlerkolonie des ungarischen Malers Simon Hollósy in Nagybánya, wo er die Sommermonate 1900 bis 1901 verbringt. Die Künstlerkolonie gilt um die Jahrhundertwende als angesagter Treffpunkt Künstler verschiedener Nationalitäten, wo man sich stark mit dem Impressionismus und der Freilichtmalerei auseinandersetzt.
Nach wiederholten Spannungen mit seinem Lehrer Griepenkerl, verlässt Gerstl im Juli 1901 die Wiener Akademie. Während dieser Zeit lebt Gerstl zurückgezogen und pflegt keinen Kontakt zu den Wiener Künstlerkreisen. Er widmet sich der Philosophie und der Musikwissenschaft, lernt Italienisch und Spanisch und liest leidenschaftlich die Schriften von Otto Weiniger und Sigmund Freud. Im Oktober 1904 tritt Gerstl wiederholt in die Klasse von Griepenkerl ein, muss dessen Kurs aber nach zwei Semester endgültig beenden. Im März 1906 lädt Heinrich Lefler Gerstl ein, seine „Spezialschule für Malerei“ an der Akademie zu besuchen. Lefler hatte zuvor Gerstls Bild „Die Schwestern Karoline und Pauline Frey“ gesehen. Gerstl stimmt zu, unter der Bedingung, ein eigenes Atelier zu bekommen.
Im Frühjahr 1906 macht Gerstl die Bekanntschaft mit dem Komponisten Arnold Schönberg und dessen Frau Mathilde, denen Gerstl privaten Malunterricht gibt. Im gleichen Jahr malt Gerstl die repräsentativen Bildnisse von Schönberg, seiner Frau Mathilde und dessen Tochter Gertrud. Gerstl wird in den Kreis von Schönberg aufgenommen und lernt Alban und Smaragda Berg, Anton von Webern, Egon Wellesz, Heinrich Jalowetz, Viktor Krüger, Ernst Diez und Alexander von Zemlinsky – Schönbergs Schwager kennen. Auf Einladung von Schönberg verbringt Gerstl die Sommermonate 1907 in Traunstein. Parallel entwickelt sich eine geheime Liebesbeziehung zwischen Gerstl und Mathilde Schönberg.
1908 verschlechtert sich das Verhältnis zwischen Gerstl und seinem Lehrer Heinrich Lefler. Gerstl beklagt Leflers Beteiligung am Kaiserjubiläum und die geplante Ausstellung des Hagenbunds. Ebenso scheitern Ausstellungsbeteiligungen im „Ansorge-Verein“ und in der Galerie Miethke, Gerstl hat kein Interesse mit Gustav Klimt auszustellen. Im Juli 1908 reist Gerstl ein zweites Mal zur Familie Schönberg nach Traunstein. Dort schreibt er am 22. Juli einen Beschwerdebrief an das Ministerium für Kultur und Unterricht, worin er sich über Lefler beklagt, dieser habe ihn bei der Schulausstellung nicht ausstellen lassen.
Ende August kommt es zum Eklat, als Gerstl und Mathilde Schönberg von ihrem Mann in flagranti erwischt werden. Das Paar flüchtet nach Wien, Mathilde kehrt jedoch nach wenigen Tagen zurück zu ihrer Familie. Gerstl wird aus dem Schönberg-Kreis verbannt. Am 4. November 1908 findet ein Konzert von Schönberg-Schülern im Großen Wiener Musikvereinsaal statt, wo Gerstl nicht eingeladen ist. Am gleichen Abend begeht Gerstl Selbstmord durch Erhängen.
Richard Gerstl gilt als Vorreiter des österreichischen Expressionismus. Als Enfant terrible der Wiener Kunstszene der Jahrhundertwende, stand Gerstl zeitgenössischen Strömungen wie dem Jugendstil ablehnend gegenüber, Zeit seines Lebens hat er nie ausgestellt. Obwohl Gerstl zu Lebzeiten als Künstler wenig beachtet wurde und als schwierige Persönlichkeit galt, gehört sein überschaubares künstlerisches Schaffen heute zu den Meisterwerken der österreichischen Moderne. Werke des Künstlers befinden sich in zahlreichen Sammlungen u. a. im Belvedere in Wien, im Leopold Museum in Wien und im Wien Museum.